Familiäre Atmosphäre im Spital Frutigen
Text: Daniel Göring, Fotos: Tino Kistler
Nico Federer beugt sich über die Unterschenkel eines Mannes und tastet vorsichtig die vernähten Narben ab, die auf beiden Schienbeinen zu sehen sind. Seine Frage, ob er die Berührungen spüre, bejaht der Patient. Auch kann er die Beine ohne Probleme bewegen. Nico Federer nickt beruhigt und desinfiziert die Nähte. Dann greift er nach einem Skalpell sowie einer Pinzette und entfernt sorgfältig die Fäden aus der Haut des Mannes. Dieser verzieht keine Miene, und nach etwas mehr als fünf Minuten hat Nico Federer alle vier Nähte entfernt. Damit ist seine erste Behandlung an diesem Nachmittag beendet.

Nico Federer bei der Nachkontrolle: Sorgfältig tastet er die verheilte Operationsstelle am Bein des Patienten ab.
Nico Federer ist Medizinstudent im fünften Studienjahr und absolviert als Unterassistent im Spital Frutigen ein zweimonatiges Praktikum. Sein Patient hatte vor drei Wochen einen schweren Skiunfall. Auf dem Bügellift prallte ein unachtsamer Skifahrer ungebremst in ihn hinein, wodurch die Knochen beider Unterschenkel brachen und teilweise zersplitterten. Mehrere Metallteile und Schrauben waren nötig, um die Brüche zu stabilisieren. Nico Federer war bei der Operation dabei und ist zufrieden mit dem Heilungsverlauf. Er entlässt den Mann mit dem Hinweis, die Physiotherapie wie vereinbart fortzusetzen. Eine nächste Kontrolle beim Chefarzt steht in einem Monat an.
Bestnoten für Frutigen
Nico Federer gefällt, dass er als Unterassistent eine aktive Rolle in der Abteilung Chirurgie und Orthopädie hat. «Ich kann mich einbringen und Verantwortung bei der Behandlung von Patientinnen und Patienten übernehmen.» Dadurch erhalte er einen viel tiefer gehenden Einblick, als wenn er wie in anderen Krankenhäusern teilweise üblich, bloss im Tross des medizinischen Personals mitmarschieren dürfe. Die Begeisterung darüber ist am Leuchten in seinen Augen ablesbar.
Auf das Spital Frutigen gestossen ist Nico Federer über eine Bewertungsplattform von Medizinstudentinnen und -studenten aus dem deutschsprachigen Raum. Auf dieser belegt das Spital seit Jahren einen Podestplatz. Aktuell rangiert nach über 40'000 Bewertungen einzig eine Klinik in Garmisch-Partenkirchen vor ihm. «Das muss überzeugend sein», sagte sich Nico Federer, der zudem ein Spital suchte, das nicht gleich um die Hausecke seiner St. Galler Heimat liegt.
Seine Kollegin Joelle Herrmann, die in Bern Medizin studiert, mag die Atmosphäre in kleineren Spitälern. Als sich ein Praktikum bei einem anderen Krankenhaus kurzfristig zerschlug, fragte sie spontan in Frutigen an – und erhielt für zwei Monate einen Platz. Sie schätzt den familiären Umgang sowie die kollegiale Zusammenarbeit mit den Assistenzärztinnen und -ärzten. Sie habe auch kein so grosses Hierarchiegefälle festgestellt, wie es manchmal in anderen Häusern vorherrsche. «Wir lernen eine Menge hier, werden einbezogen, und unsere Meinung zählt etwas.»
Wunsch ging in Erfüllung
Sie habe in Frutigen das chirurgische Handwerk lernen und zum Beispiel den Heilungsverlauf von Brüchen mitverfolgen können, rühmt Joelle Herrmann. Auch beim Interpretieren von Röntgenbildern habe sie grosse Fortschritte gemacht, fügt die Unterassistentin hinzu. Derweil hat sich Nico Federers Blick auf die Orthopädie in Frutigen von einem verbreiteten Klischee abgewendet: «Die Orthopädie ist nicht einfach eine ‹Knochenschlosserei›, sondern ein breites, spannendes medizinisches Betätigungsfeld.»
Neben der «grossen Lernkurve», von der Nico Federer spricht, wenn er seine Erfahrungen in Frutigen Revue passieren lässt, hat das Praktikum auch persönliche Wünsche erfüllt. Joelle Herrmann hatte im Kopf, dass sie während ihres achtwöchigen Aufenthalts in Frutigen die Gelegenheit erhalten möchte, eine ausgekugelte Schulter wieder einzurenken. An ihrem letzten Sonntag, fünf Tage vor Ende des Praktikums, kam ein Patient mit einer ausgerenkten Schulter auf den Notfall. Dankbarkeit und Zufriedenheit klingen in ihren Worten an, wenn sie von dem Einsatz berichtet. «Es bereitete mir unglaubliche Freude, einem Patienten mit einigen Handgriffen ein schmerzhaftes Problem zu lösen.»

Joelle Herrmann im Gespräch: Die Medizinstudentin schätzt besonders den kollegialen Umgang und die praxisnahe Ausbildung im Spital Frutigen.
Auf Praktikantinnen und Praktikanten angewiesen
Den Eindruck von Joelle Herrmann und Nico Federer, dass sie im Spital Frutigen eine tragende Rolle haben, bestätigt Peter Häfliger. Er ist als Leitender Arzt Orthopädie für die Praktikantinnen und Praktikanten in seiner Abteilung verantwortlich. «Unterassistentinnen und -assistenten sind voll in das Tagesgeschäft integriert.» Häfliger geht, was die Bedeutung der Praktikantinnen und Praktikanten für das Spital Frutigen anbelangt, gar noch einen Schritt weiter: «Wir sind auf sie angewiesen. Ohne Unterassistentinnen und -assistenten würde der Spitalbetrieb weniger gut funktionieren.»
«Es ist für mich ein Privileg, mit so coolen jungen, motivierten Leuten zusammenzuarbeiten.»
Handkehrum müssen die Praktikantinnen und Praktikanten gleich von Beginn weg mit anpacken. «Wir geben ihnen am ersten Tag eine Einführung. Dann erhalten sie den weissen Kittel, und ab dem zweiten Tag stehen sie voll im Einsatz», führt Peter Häfliger aus. Genau deswegen biete ihnen das Praktikum die Chance, zu lernen, selbständig zu arbeiten und sich im Spitalalltag zu bewähren.
Spital Frutigen als Arbeitgeber – warum nicht?
Rund 30 Studierende erhalten pro Jahr im Spital Frutigen einen Praktikumsplatz. Jene aus der Schweiz bleiben ein bis zwei Monate, ihre deutschen Kolleginnen und Kollegen zwei bis vier Monate. Peter Häfliger möchte sie – nicht nur wegen der betrieblichen Notwendigkeit – nicht missen: «Es ist für mich ein Privileg, mit so coolen jungen, motivierten Leuten zusammenzuarbeiten.»
Die Unterassistentinnen und -assistenten geben die ihnen entgegengebrachte Wertschätzung nicht bloss auf Bewertungsplattformen im Internet retour. Sie könnten sich durchaus vorstellen, nach Abschluss des Studiums ihren beruflichen Weg in Frutigen zu beginnen, erklären Joelle Herrmann und Nico Federer unisono. «Hier erhält man einen gesamtheitlichen Einblick und findet sich viel schneller zurecht als in einem Zentrumsspital», resümiert Nico Federer.

Peter Häfliger
Peter Häfliger ist seit 2011 Leitender Arzt Orthopädie im Spital Frutigen. Er hat zwei erwachsene Kinder. In seiner Freizeit fotografiert Peter Häfliger leidenschaftlich und taucht auch gerne, vorzugsweise im Meer. Gleitschirmfliegen ist ein weiteres Hobby, das er überwiegend im Ausland, insbesondere in Italien, ausübt.
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